Der Nußknacker auf dem Prinzipalmarkt

Dass man mit Traditionen manchmal brechen muss, erfuhr das Publikum gestern beim 27. münsteraner Tanzfestival. WDR-Redakteur Matthias Bongard, als Moderator stets gesetzt, hat Rücken – gute Besserung von hier aus. So gut und wichtig eine Moderation aber auch sein mag, natürlich kommt es in der Hauptsache auf das an, was da präsentiert wurde. Und das war wie immer bunt, vielseitig, dynamisch. Ein ganz Großer der örtlichen Tanzszene ist dann auch kurzweilig und kenntnisreich in Bongards Fußstapfen getreten: Günther Rebel.

Den Anfang machte – wie in jedem Jahr – Schrittwechsel, die Tanzgruppe der Lebenshilfe. Folgen und Verfolgen war das Thema zu „I follow Rivers“ und das haben die 11 Tänzer*innen gut gemacht, wie sich da immer wieder urplötzlich jemand einreiht, wie die Formation aufgelöst und neu gebildet wird, wie Lust und Spaß an der Bewegung transportiert werden – eine Choreografie von Doris Gillmann. Bei der folgenden Strong Society Crew gibt es hingegen keine eigene Choreografin oder besser, die jungen Tänzerinnen choreografieren selbst und zwar hauptsächlich Afro-Dance. Kulturelle Vielfalt ist ihnen ein wichtiger Aspekt, und so mischen sie auch Tanzstile, eine temporeiche Darbietung in afrikanischen Kostümen. Hermann Hesses „Im Nebel“ ist der Beginn vom Tanzensemble Tenbrock, das sich die Einsamkeit vorgenommen hat. Passend zur Stimme von Hesse, die vom Band erschallt, verdichtet sich der Nebel auf der Bühne. Und das Thema ist aktuell, denn andernorts werden Begegnungen mit Menschen schon auf Krankenschein verordnet. Eine tolle tänzerische Darstellung der isolierten Individuen in der Gemeinschaft. Unglaublich heiß wurde es danach, denn das Tanztheater Orosz trat mit einer zweiteiligen Performance an, mit den „Collagen“ und schließlich mit „Feuer“. Gerade der zweite Teil in der Choreografie von Lajos Orosz war besonders imponierend. Ein großes rot-oranges, flatterndes Tuch, das immer wieder von und über Tänzer*innen gezogen wurde, verkörperte Flächenbrand und Hitze. Man musste fast zwangsläufig an die Brände in Australien oder Brasilien denken. Xtravaganz von Tatjana Jentsch befasste sich mit dem Glauben an selbst und der Kraft über dem zu stehen, was die Gesellschaft zur Norm erklärt. Unglaublich viele Tänzerinnen (ich glaube, es waren tatsächlich nur junge Frauen) setzten sich tänzerisch mit dem auseinander, was scheinbar verlangt wird. Ein besonderer Leckerbissen wird mit Flamenco Blanca Nieves aufgetischt, denn nicht nur, dass Ania Stolte und Anna Brüning das Verhältnis zwischen Lehrerin und Schülerin so herrlich in tollen langen Kostümen tanzen, das Ego herausbildend mit nach oben gerecktem Kinn. Es ist auch diese fantastische musikalische Begleitung auf den Gitarren von Thomas, Carl und Leonard Hölscher (Vater und Söhne), die das Bonbon extra sahnig schmecken lassen. Einen kleinen Ausschnitt aus der Choreografie „Doppelstrich“, die im März des kommenden Jahres im Kleinen Haus uraufgeführt wird, zeigte die ballet dance Company. Mit den Tanzprojekten Heidi Sievert befand man sich im Aufzug, zusammen mit wildfremden Menschen bevor die Hip Hop Academy Tänze mit Leidenschaft und Energie füllten. Das hat mich begeistert und hätte ich nicht am Rande kauern müssen, die Kamera im Anschlag, den Block gezückt, so wäre ich wohl auf die Bühne gestürmt – sicher zum Leidwesen der übrigen Beteiligten. Den Abschluss eines großartigen Abends war schließlich das Pas de Deux auf dem Prinzipalmarkt, die Suite von Tschaikowski mit dem Nußknackerprinzen und der Zuckerfee. da rieselt sogar der Schnee in Münsters guter Stube als Marcello Acevedo und Romy Krenkler so innig tun, wie es nur in Wünschen erfüllt wird.

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