Der angesehene Arzt Dr. Henry Jekyll kniet am Krankenhausbett seines Vaters. Könnte er ihn doch nur retten – diesen guten Menschen und reinen Geist. Schon tauchen aus den Untiefen zerfetzte Gestalten auf, dunkle, bedrohliche Saiten, rotten sich zusammen, balgen, tanzen, verschmelzen. Bürgerliche Moral im viktorianischen England Ende des 19. Jahrhunderts bilden ebenso einen Pol wie Laster und Doppelmoral, Begierden und geheime Sehnsüchte. Das war das Fundament für die Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson, wunderbar inszeniert von Ingo Budweg mit dem Freien Musical Ensemble Münster. Premiere war gestern Abend im Saal der Waldorfschule – passend an Halloween oder dem Reformationstag, natürlich vor ausverkauftem Haus. Der ein oder andere Zuschauer mit weiß geschminktem Gesicht und blutunterlaufenen Augen, einer Handattrappe auf der Schulter oder ein Messer im Kopf.
Hauptfigur ist der Ascheberger Maximilian Dreyer, im Hauptberuf Chemiker, was ja irgendwie auch sehr passend ist. Denn in der Rolle des Dr. Jekyll mischt er eine geheime Tinktur, die das Böse vom Guten trennen soll. Die Bühne, liebevoll und kreativ gestaltet, wird auf zwei Ebenen bespielt, außerdem rechts und links an den Flanken, was den ein oder anderen Zuschauer fast überfordern mag. Ein Füllhorn an Energie, tolle, bunte Kostüme, fesselnder Gesang und ein Orchester in Hochform, links die Pauke, rechts die Kontrabassisten, dazwischen reichlich Streicher, Trompeter, Posaunen, Klarinette, Klavier und Ingo Budweg, der die insgesamt 209. Aufführung des Ensembles gekonnt und sichtlich bewegt durch den langen Abend führt.
In der oberen Etage befindet sich das Labor unseres englischen Doktors, daneben sein Arbeitszimmer, Denkerwerkstatt und Ruheraum. Es muss doch möglich sein, das Gute vom Bösen zu trennen, ist der Wissenschaftler überzeugt. Privat steht er kurz vor der Hochzeit mit Lisa Carew, freundlich wie er selbst, liebevoll, eine Seele von Mensch im biederen Kleid, klasse gesungen und gespielt von Chiara Bonventre, die alle Töne trifft und das Gute, Unbefleckte so überzeugend in eine Form gießt. Auf einem Ausflug in einen Club, eigentlich wollte Henry nur ein Bier trinken, lernt er die Hure Lucy Harris kennen. Wenyi Xie, da muss ich einfach ein Sonderlob loswerden, verkörpert die Rolle der Dirne, die für ihren Lebensunterhalt in kargen Verhältnissen sogar ein Stelldichein mit dem Bischof von Basingstoke (Christian Trüller) über sich ergehen lassen muss, wunderbar. Die Bewegungen, wenn sie tanzt, wenn sie läuft, wenn sie singt, der ganze Habitus sind vereinnahmend. Der Bischof, Gott sei ihm gnädig, musste dafür übrigens teuer bezahlen. Die beiden Damen, Lucy und Lisa, sicher nicht umsonst mit kurzen, ähnlichen Namen, singen ein berührendes Duett von den gegenüberliegenden Bühnenseiten, dabei ist jede in ihrer Welt, Lisa im englischen Teakholz, Lucy im nackten Mauerwerk. Es kommt die große Zeit des Dr. Jekyll, anfangs noch ein Lamm, dass ich dachte, ein bisschen mehr Männlichkeit kann jetzt auch nicht schaden, testet er seine Tinktur im Selbstversuch. Diese Verwandlung vom gesellschaftlich hochgeachteten Arzt mit zusammen gebundenen Haaren, aufrecht stehend und alle Konventionen beherrschend hin zum Tier mit offenen, wilden Haaren, ein angedeuteter Buckel, die Stimme vom Lamm zum Wolf. Gewaltfantasien bleiben nicht Fantasien. Da wird geschossen, geschlagen, gehackt, vor den Zug gestoßen, gemeuchelt, gemordet, erdolcht, ans Kreuz geschlagen. Zu Beginn kündigte sich die Metamorphose noch an, ein Brennen auf der Zunge oder in den Atemwegen, ein Krümmen des Körpers. Mit zunehmender Zeit wurden die Intervalle kürzer, keine Zeit mehr für Feinheiten, an denen man eine Verwandlung hätte festmachen können. Dann steht Dr. Jekyll auf der Treppe, wendet sich nach links, wird Mr. Hyde mit offenem Haar und satanische Stimme, wendet sich nach rechts treppauf und wird Dr. Jekyll, liebevoll und fürsorglich, musikalisch grandios in Szene gesetzt mit aller Dramatik, die es braucht mit einem Ensemble, das sich in Tanzeinlagen und Gesang nicht hinter Profis verstecken muss, das Szenen einfriert, auflöst und umbaut.
Ein imposanter Abend, reich, voll, überbordend mit Menschen, die einen an das Gute glauben lassen. Sind wir aber nicht alle Jekyll und Hyde?