Spielzeiterwachen im Theater

Für Theater-Puristen und die, die wissen, dass sie in der kompletten Spielzeit nie Zeit haben werden, mag der gestrige Abend gereicht haben. Alle anderen dürften Lust bekommen haben, Lust auf Musik- und Tanztheater, auf Oper, die niederdeutsche Bühne und Kinder- und Jugendtheater, auf Sinfoniekonzerte und überhaupt die warme Theateratmosphäre, einen Ort der Begegnung und Auseinandersetzung. In fast zwei Stunden ist jedenfalls die komplette Spielzeit komprimiert worden. Passend dazu lässt Intendant Ulrich Peters zu Beginn einen zwei-Minuten-Film über die Leinwand flimmern, der nicht nur eine Führung durch das Gebäude beinhaltet, sondern auch das Reich der Gewandmacherin oder etwa die Schreinerei zeigt. Beauftragt mit der preisverdächtigen Filmproduktion waren junge Nachwuchsfilmer.

Unter musikalischer Leitung von Stefan Veselka spielt das Sinfonieorchester im Orchestergraben die Ouvertüre zu Mozarts „Entführung aus dem Serail“, die im Mai 2019 Premiere feiern wird. Vielmehr als die Ouvertüre ist freilich nicht drin, auch wenn das Orchester ganz zum Schluss noch einmal darauf zurückkommt. Aber der Intendant muss ja zwischendurch auch noch ein paar personelle Änderungen bekannt geben und einen Blick auf die vergangene Spielzeit werfen. „Wir haben an der 200.000-Zuschauer-Marke gekratzt“, sagt er ganz stolz und verweist auf einen Auftritt des Tanzensembles auf dem Katholikentag, für den sogar eine Aufführung der Rockoper „Everyman“ in Kauf genommen wurde. Schon gibt Peters das Zepter weiter an seine Spartenleiter. Chefchoreograf Hans-Henning Paar begrüßt Neuzugänge aus Albanien und Spanien, das geht alles sehr schnell, denn natürlich möchte das Publikum die Tänzer in Aktion sehen. Zehn Tänzerinnen und Tänzer im schwarzen „Ganz-Körper-Kondom“ bewegen sich wie Spinnengetier über den Boden, erheben sich, tanzen gemeinsam und vereinnahmen den vollen Saal. Es wirkt, als ob die Menschen auf nichts anderes gewartet hätten als das gestrige Spielzeiterwachen, freudig erregt mit warmer Energie, die langsam den Körper flutet.

Auch Schauspieldirektor Frank Behnke begrüßt Neuzugänge, was allerdings schon komisch wirkt, denn der Protagonist aus Wilhelm Tell ist blutüberströmt, hat er doch gerade mit der Axt den Schädel des Landvogts gespalten. In der folgenden Szene bittet er auf der Flucht vor seinen Häschern den Fährschiffer um Überfahrt, doch der weigert sich. Da kommt Hilfe mit der berühmten Armbrust. Schon Ende September ist Premiere.

Der Wechsel zwischen den Sparten erfolgt rasant. Wähnt man sich innerlich noch in der Schweiz bei Wilhelm Tell, befindet man sich schon in der Wiederaufnahme-Premiere von „Rico, Oskar und der Tieferschatten“. Das Kinderstück lief in der vergangenen Spielzeit erfolgreich und ändert jetzt die Besetzung. Der „tiefbegabte“ Rico findet eine Nudel auf dem Gehsteig, eine Rigatoni in Gorgonzolasoße. Oskar und ein Nachbar machen sich lustig über Ricos Dummheit. Während sich Oskar dann aber doch entschuldigt, isst der Nachbar einfach die Nudel auf. „Die nächste Nudel wälze ich in Hundescheiße“, sagt Rico, als die Tränen trocknen. Wiederaufnahmepremiere ist schon heute.

Aus  Erich Kästners „Drei Männer im Schnee“ wird bei der niederdeutschen Bühne „drei Mannslüü in`n Snei“. Gespielt wird eine rasante Szene um den Gewinn eines Preisausschreibens. Dabei wirkt die Sprache wie Musik mit eingebauter Komik.

Anna Karenina, Madame Butterfly, Street Scene, Unknown Territories, eine Art Liebeserklärung, die Liebe zu den drei Orangen, die Musical-Komödie „Sugar“ – die Zuschauer erwartet ein buntes Programm. Wär doch gelacht, wenn die „200.000er-Grenze“ in dieser Spielzeit nicht weit übertroffen wird. Nach Theaterfest und Spielzeiterwachen sind die Theaterfreunde gestern mit Livemusik von Abba und im Anschluss mit einer rauschenden Party eingestimmt worden. Ein sehr schöner Tag

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