Vielleicht sollten wir alle mehr Einrad fahren

Dass Carl Turner und Amélie Granger ein Paar sind, erkennt das Auditorium auf den ersten Blick. So innig, so nah, so eins kann man anders nicht sein bei dem Tanz in der Luft. Dass Raphaelle Pépin als einzige Künstlerin im Cirque de Québec ihre Prüfung ausschließlich in der Clownerie machen durfte, hat sich als Glücksgriff erwiesen. So komisch, so selbstironisch, so entspannt-beweglich könnte sie sich sonst nirgends zeigen. Dass ein Fahrrad nicht zwei Räder braucht und man auch nicht langweilig allein durch die Gegend fahren muss, beweisen Babou Sanna und Rémi Orset aus Frankreich bei ihrer Artistik auf dem Einrad. Vielleicht sollten wir alle mehr Einrad fahren. „Seasons“ heißt das neue Programm im GOP der kanadischen Compagnie „Flip Fabrique“ unter Regie von Maxime Perron. Gestern war Pressepremiere.

Die Bühne ist dekoriert mit einem drehbaren Dachboden, auf dem alle möglichen Dinge verwahrt werden, unter anderem ein altes Radio, mit dessen Husten die Show beginnt – in all der Zeit hat sich halt Staub auf die Lunge gelegt. Insgesamt 9 Künstlerinnen und Künstler turnen, tanzen, springen, klettern, werfen, fangen sich durch das Jahr und das zu wunderbar flotter Musik, die allein schon glücklich macht. 9 to 5 und Nenas 99 Luftballons etwa. Und natürlich dürfen Vivaldis vier Jahreszeiten nicht fehlen, als Pépin auf Skiern ein paar theatertaugliche Schneeflocken aus ihrer Tasche klaubt. „Let it schnee“, kommentiert sie, nachdem sie sich mühsam mit Winter-Equipment ihren Weg auf die Bühne bahnt. Vorher tätschelt sie noch die haarlosen Häupter einiger Zuschauer. Sie macht das aber in einer nicht übergriffigen, charmanten Art, so dass ihr das niemand übel nimmt. Selbst ein Herr in der ersten Reihe, der im „Sommer“ von Pépin mit Wasser „getauft“ wird, nimmt es gelassen. Übrigens ist die Clownin tatsächlich doch nicht nur auf dieses Fach beschränkt, sie begeistert auch am Trapez. Die Compagnie zeigt Nummern, die ich bisher noch nicht gesehen habe, Jessi James zum Beispiel hechtet vorwärts durch den mittleren von drei übereinander hängenden Ringen, landet nur auf einem Arm und springt rückwärts zurück durch den untersten Ring. Oder die Jonglage mit riesigen roten Bällen, die zur Not auch mal als Fortbewegungsmittel dienen. Aber das besondere an der Show sind nicht einzelne Acts, sondern dass alles wie aus einem Guss ist, die Bühne voller Menschen, ständig fliegt irgendetwas oder irgendjemand und wenn dann mal ein Kegel oder eine Scheibe daneben landet, ist das eher ein Zeichen für: „Hier arbeiten Menschen und keine KI-gestützen Roboter“. Bunt, prall, aktiv – leben, lieben, Leidenschaft. Die Menschen im Saal werden mitgenommen, und man spürt diese knisternde, begeisternde Atmosphäre – da braucht es nicht mal die standing ovations, die zwar auch erfolgen, die aber leider schon so inflationär sind.

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