Anna Vinnitskaya auf der Toteninsel

Ein einzelner Ruderer bewegt den Nachen, ein kompaktes, kleines Boot, auf die Insel zu. Vorne drauf steht eine weißverhüllte Person und geleitet einen bedeckten Sarg. Das Eiland ist inmitten mit Zypressen bewachsen und in den Kreidefelsen sind Grabkammern eingelassen. Was auch immer der schweizer Künstler Arnold Böcklin damit ausdrücken wollte, das Bild hat viele Komponisten inspiriert, unter anderem Sergei Rachmaninow und Max Reger. Gestern Abend fand das siebte Sinfoniekonzert zwar nicht auf der Toteninsel sondern im Großen Haus statt, doch hatte es sich unter anderem dieses Themas angenommen. Die musikalische Leitung oblag Generalmusikdirektor Golo Berg.

Und schon spürt man das Ruder ins kalte Nass eintauchen, es läuft ein bisschen unruhig, die Hörgewohnheiten werden nicht außer Kraft gesetzt, doch auf die Probe gestellt. Das liegt am 5/8-Takt, mit dem Rachmaninow demonstriert, dass Wasser keine Balken hat. Doch der Nachen hält unbeirrt auf sein Ziel zu. Um in der Sprache der Cineasten zu kommentieren, so ist das Musik in 3D, ganz ohne Brille für die Ohren. Es ist so, als ob man selbst auf dem kleinen Kahn steht und die Fracht begleitet, man taucht in das Gemälde ein und hält sich an seinem Sitz fest. Max Reger, der in der zweiten Konzerthälfte zu hören ist, klingt anders, trotz aller Dramatik und Lautstärke, eher betrachtend als mittendrin, schön, jedoch nicht so unmittelbar. Böcklin hat im Übrigen 5 verschiedene Exemplare von der Toteninsel gefertigt. Vier sind noch erhalten und befinden sich verstreut von Leipzig bis New York in diversen Museen.

Dass das Konzert nicht nur düster, gewaltig-bedrohlich und melancholisch war, lag an der Solistin Anna Vinnitskaya, die in ihrem zartrosa, bauschigem Abendkleid dem Bechstein so perlende Töne entlockte beim 4. Konzert für Klavier und Orchester. Es heißt, dass es wenig verstanden und daher selten gespielt wird. Doch ich fand die Interaktion klasse. Auf mich hatte es den Eindruck, als ob die Solistin etwas überrascht war, dass es noch ein Orchester gab, sich dann aber in diese ungeahnte Fülle hereinbegab und mit der üppigen Instrumentierung zusammenwuchs, sich mal begleiten ließ, aber immer wieder auch die Kraft des Flügels zeigen wollte. Diese ungeheure Geschwindigkeit, dieser herrliche Klang, beinahe göttlich – das Auditorium war sichtlich ergriffen. Ach, könnte man doch nur für einen kurzen Moment die Zeit stoppen und die Musik malen lassen.

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