Ein Andorraner braucht nichts zu fürchten

Zwei Wände, die diagonal über die Bühne laufen, sich nach hinten verjüngend einen Spalt für die Schauspieler lassen. Der Boden mit Kieselsteinen übersät. Vielmehr braucht es nicht an Bühnenbild für Max Frischs Andorra in einer Inszenierung von Laura Linnenbaum. Gestern Abend war Premiere im Kleinen Haus.

Ein Stück über Ausgrenzung und Identität, Schuld, Verantwortung und Vorurteil – Andorra ist – man mag das anders wünschen – immer aktuell. Das reduzierte Bühnenbild lenkt den Blick auf den wesentlichen Konflikt. Der junge Mann Andri lebt beim Lehrer, der immer behauptet hat, ihn als Findelkind aufgenommen zu haben, ein Jude, der irgendwie anders ist, lose assoziiert mit dem Rest der Familie, mit der Frau des Lehrers und deren gemeinsamer Tochter Barblin. Es ist an der Zeit, dass Andri eine Lehre macht. Ein Jude, so hört man allenthalben, möge an die Börse gehen. Doch Andri will Tischler werden. Den sauberen, weiß getünchten Andorranern ist das so gar nicht recht. Der Lehrer, der sich dem Vernehmen nach verantwortlich für sein Findelkind fühlt, muss sogar eigenes Land verkaufen, um einen astronomisch hohen Preis für eine Lehrstelle zu entrichten. Zwischendurch wenden sich die Akteure immer wieder an das Publikum, sie selbst seien doch nicht Schuld, der Tischler, der Andri doch eine Lehrstelle gegeben habe, der Pater, der immer wieder das Gespräch gesucht habe und der – tatsächlich – Andri ermuntert hat, sich selbst in der Andersartigkeit anzunehmen. Klasse, wie sich die Schauspieler – Wirt, Doktor, Tischler, Geselle, Pater, Soldat – zusammenrotten und auf engstem Raum das Volk verkörpern, wie sie tuscheln und eine Einheit bilden. Und Andri beginnt, das anzunehmen. Er ist halt Jud und kann mit Geld umgehen. Schon klimpern die Münzen in seinen Händen und Taschen. Sein gut verzapfter Stuhl, Gesellenstück beim Tischler, wird hingegen überhaupt nicht wertgeschätzt. So muss Andri dann in den Verkauf wechseln. Doch die Münzen hat er und mit denen spart er. Denn er liebt Barblin, die Tochter des Lehrers und will mit ihr ein eigenes Leben führen. Auf Barblin hat auch Soldat Peider „ein Aug geworfen“ – echter Andorraner versteht sich, mutig, so ganz anders als der feige Jud. Barblin fühlt sich auch zu Andri hingezogen, traut sich aber nicht, das öffentlich einzugestehen. Irgendwann sieht Andri überrascht, wie Peider aus Barblins Kammer kommt, sich die Hose zumacht und die Hosenträger überstreift. Und dann kommt die Senora, eine „Schwarze“ im weißen Andorra. Soll der Wirt (großartig: Ilja Harjes) an sie ein Zimmer vermieten? Der schnöde Mammon siegt. Dabei war es gerade der Wirt, der zu Beginn erklärte, dass die Andorraner beim Thema Geld ganz anders seien. Ein paar Werbesprüche sind eingebaut, „Wenns um Geld geht – Sparkasse“ etwa, oder „Diba, diba Du“, das sorgt natürlich für Lacher. Die Senora entpuppt sich als Mutter von Andri, Vater ist der Lehrer selbst und damit Barblin Andris Schwester. Es ist zu spät, das Unheil nimmt seinen Lauf.

Regisseurin Laura Linnenbaum hat sich bemüht, das Stück aufzulockern, indem sie Frisch selbst mit Rollator und an der Leine gezerrtem Stoffhund auf die Bühne kommen lässt. Dabei ist ein Höhenunterschied von etwa einem halben Meter zu überwinden,  was natürlich mit Rollator einige Schwierigkeiten beinhaltet. Die Szene streckt sich bis Frisch schließlich über die Kiesel mit knirschenden Reifen im Bühnenrücken verschwindet. Das wirkt einfach nur albern, ändert aber nichts an dem großartigen Ensemble. Ich traue mich kaum, jemanden herauszupicken und besonders zu erwähnen. Allerdings verdient der Konflikt zwischen Vater (Frank-Peter Dettmann) und Sohn (Garry Fischmann) schon vertiefte Aufmerksamkeit. Bei beiden merkt man, dass sie so ganz in der Rolle stecken und sie tragen eben auch den Löwenanteil. Die Situation, in die sich der Vater gebracht hat, gibt irgendwann keinen Ausweg mehr. Sein Sohn hat alle Vorurteile angenommen. Das spielen die beiden so intensiv, dass das Ende geradezu zwingend ist. Auch wenn die Theaterfreunde rechts und links neben mir immer wieder eingenickt sind, hat sich das Ensemble den Beifall verdient.

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