Links und rechts bewegliche Holzkulissen, die ein Dorf darstellen, genauer ein russisches Schtetl zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem polnische Juden leben, tolle historische Kostüme und Musik, die dem Auditorium nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Selten waren Standing Ovations so angebracht wie bei der gestrigen Premiere von „Anatevka“ im Großen Haus, eine Musical-Inszenierung von Nilufar K. Münzing unter musikalischer Leitung von Stefan Veselka.
Fels in der Brandung ist Gregor Dalal als Milchmann Tevje, der das Hohelied auf die Traditionen singt mit wunderbar osteuropäischem Akzent. Ach, was wären die Juden im Schtetl nur ohne Traditionen? Allenfalls Fiedler auf dem Dach, keine Erdung, keine ehrbare Arbeit, und so heißt das Musical im Original auch „fiddler on the roof“. Im Schtetl sind die Juden weitgehend unter sich, treffen nur auf dem Markt mal Christen, Bildung nur für Männer, Mädchen werden verheiratet. Dafür gibt es die Heiratsvermittlerin Jente (sehr schön, wie Barbara Wuster in der Rolle der Jente später auf der Hochzeit sichtlich gekränkt Zeitung liest). Tevje, arm, doch redlich, zieht mit seinem Karren auf den Markt, verkauft Käse und Milch. Immerhin muss er ja seine fünf Töchter, drei davon im heiratsfähigen Alter, ernähren. Ach, auf die Mühsal könnte Tevje gut verzichten, und als so gar keine Kunden kommen, singt er auf dem Karren stehend „Wenn ich einmal reich wär“, ein tolles, eingängiges Lied von Jerry Bock, tanzend mit dem Federvieh, dem er galant noch eine Schwanzfeder ausreißt. Masel tov – viel Glück. Endlich hat Heiratsvermittlerin Jente einen wohlhabenden Bräutigam für die älteste Tochter Zettel (Melanie Spitau) gefunden, ausgerechnet den viel älteren Fleischer Lazar Wolf (Christoph Stegemann). Zwar gibt es anfangs noch ein kleines Missverständnis, doch werden sich Tevje und Lazar Wolf unter Genuss von reichlich Alkohol in lärmender Kneipe schnell einig. Zu verheißungsvoll ist wohl die Aussicht, schon mal eine Tochter versorgt zu wissen. Masel tov. Leider spielt Zettel da nicht mit, denn ihr Herz schlägt für den armen Schneider Mottel, der auf eine eigene Nähmaschine spart, vor deren Anschaffung er sich aber nicht traut, um Zettels Hand anzuhalten. Das stürzt Tevje in einige Schwierigkeiten. Nicht nur hadert er mit den Traditionen, sondern er muss es auch seiner Frau erklären. So ersinnt er einen Albtraum, in dem ihm Oma Zeitel erscheint, die Mottel als besten Ehemann von allen preist (klasse Pascal Herington als Mottel und Oma Zeitel). Nach und nach suchen sich die die drei heiratsfähigen Damen eigene Kandidaten, ganz ohne Heiratsvermittlerin. Tevjes Weltbild bröselt, immer wieder macht er seine innere Zerrissenheit öffentlich, eingeleitet mit „Andererseits…“. Hodel (herzergreifend gesungen von Kathrin Filip, die heute Geburtstag feiert) verliebt sich in den mittellosen Perchik, Chava (nicht weniger herzergreifend Finn Samira) in den Christen Fedja – das geht nun wirklich zu weit.
Doch neben diesen ganzen traditionellen Befindlichkeiten gibt es noch eine andere, eine weit schlimmere Seite, denn das Militär will die Strukturen zerstören und wehe jemand weigert sich.
Eine sehr gelungene Inszenierung mit wunderbarer Bühne und Kostümen, für die sich Bernhard Nieschotz verantwortlich zeigt, den ich an anderer Stelle bereits ausgiebig gelobt habe. Gregor Dalal in Hochform, tolle Tanzeinlagen auf der Hochzeit, Sterne, die plötzlich herabsinken und den heiligen Schabbes einleiten. Jede Menge kleine Hingucker. Toll.