Emotionen mit der geleimten Geige

Eine einfache Hütte mitten im Wald, davor Blüten und Farngewächse. Zwischen all der Botanik verscheucht die Gänsemagd das Federvieh. Dabei wäre sie doch viel lieber unter Menschen und sähe nicht nur die Großmutter. So beginnt Humperdicks üppig besetzte Oper „Königskinder“ gestern Abend in Münsters Großem Haus. Die Regie führt Clara Kalus, die musikalische Leitung obliegt dem ersten Kapellmeister Henning Ehlert.

Auch wenn nach meinem Geschmack nicht alle Sänger*innen voll überzeugen können, ist das endlich mal wieder eine Oper in Münster, die Spaß macht, bunt, schillernd, klasse Kostüme, tolles Bühnenbild und so viele Menschen. Der Kinderchor des Gymnasium Paulinum sorgt für eine emotionale Grundstimmung, nicht allein durch dessen glockenhellen Klang, auch durch einzelne Satzfragmente, die auf Schildern hochgehalten werden. Vollständig lautet der Satz „Wie werden wir uns wiederfinden?“. Aber immer wieder wird auch mit diesem Satz gespielt, wird er neu zusammengesetzt oder vereinzelt. Zuvorderst gilt er natürlich für die Königskinder. Dass die Gänsemagd in Wahrheit mehr ist als eine bloße Magd und die Großmutter nicht liebevolle Oma, wird schnell klar – da muss nicht erst der Königssohn im Wald erscheinen. Als der mit der Gänsemagd verschwinden will, zeigt sich der Zauber, den die ältere Dame um das Grundstück gelegt hat. Der macht es der Gänsemagd unmöglich, das Terrain zu verlassen. Großmutter, überzeugend gesungen von Wioletta Hebrowska, ist also vieles, auch Hexe und für die Menschen im Dorf Ratgeberin als Waldfrau. So ist sie also auch nicht verkleidet als Hexe mit Warze, Buckel und Stock – wenn es doch immer so einfach wäre. Jedenfalls ist der Königssohn enttäuscht, dass er seine ebenfalls in Wallung versetzte Gänsemagd zurücklassen muss, was freilich in emotionalem Liedgut endet. Richtig spannend ist der Bühnenwechsel zwischen erstem und zweiten Akt. Da wird kurzerhand die Waldszene samt ausladendem Baum nach oben gezogen und drunter erscheint ein Wirtshaus, schnell die Türzargen eingesetzt und allerlei Gäste füllen die „Kaschemme“. Der Königssohn verdingt sich beim Wirt als Schweinehirt, denn seine Krone gab er der Gänsemagd. Nichts hat er, sich zu legitimieren und seine Vater, der König, ist tot. Dazu wird er noch von der Wirtstochter bedrängt. Die Waldfrau hat geweissagt, dass der neue König um 12 erscheinen wird. So herrscht Spannung. Das wird doch nicht etwa – der Schweinehirt sein und seine hergelaufene Gänsemagd die neue Königin? Blasphemie.

Im dritten Akt, den ich persönlich als ausdrucksstärksten Teil empfunden habe, irren die Königskinder, zerfetzt und durchgefroren bei Schneefall zu der Hütte im Wald. Garrie Davislim als Königssohn und Anna Schoeck als Gänsemagd machen ihre Sache im übrigen ordentlich, eindrucksvoller noch Anna Schoeck, der man im Gesang das Leid abnimmt. Der Garten ist inzwischen ein Müllhalde, Schrottautos, Müllsäcke. Hier ist kein Zuhause mehr, nichts hält sie. Der Spielmann, der die Königskinder sucht, setzt sich auf einen alten Schemel, den er vom Müllplatz angelt und leimt seine Geige. Es folgt das wohl gefühlvollste Geigenspiel der Oper aus dem Orchestergraben. Johan Hyunbong Choi als Spielmann singt dazu so herzzerreißend, dass das Auditorium sich am liebsten selbst auf die Suche nach den Königskindern machen will. Auf zwei Figuren will ich noch besonders hinweisen: Holzhacker und Besenbinder oder Gregor Dalala und Youn-Seong Shim, die nicht nur klasse Gesangspartien liefern sondern deren Rollen auch verschlagen angelegt sind, ein bisschen falsch und auf ihren Vorteil ausgerichtet, füllen die beiden die Rollen so gut, dass hin und wieder ein Schmunzeln im Saal nicht ausbleibt.

Eine Oper, die die Menschen bewegt, sie mitnimmt und gefangen hält. Endlich wieder. Münster hat das verdient.

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