Von der Bühne aus führt ein Steg, vielleicht 7 Meter lang, ins Parkett. Immer wieder nutzen die Schauspieler diesen für Ausflüge, streiten leidenschaftlich, echauffieren sich. Das Publikum befindet sich nicht nur in der Nationalversammlung – es ist die Nationalversammlung in Versailles. Dafür sorgt schon das Ensemble des Theaters Münster, das sich immer wieder unter die Zuschauer mischt und die Geschehnisse emotional und lautstark kommentiert oder den gesamten Saal aufstehen lässt, als die Ankunft des Königs angekündigt wird. Stefan Ottenis Inszenierung von Joel Pommerats „La Revolution – wir schaffen das schon“ begeistert die Münsteraner – gestern Abend wieder im Großen Haus.
Pommerats Figuren sind von der französischen Revolution inspiriert, ebenso wie die Dynamik der Ereignisse, doch er selbst sagt, dass diese Aufführung keine Rekonstruktion von 1789 sei. Allein die Sprechtexte von König Ludwig dem XVI. begründen sich auf historische Quellen. Als König großartig ist Hubertus Hartmann, der nach Überlieferungen ein guter Mensch gewesen sein soll, jedoch von der Situation des finanziell ruinierten Frankreich im ausgehenden 18. Jahrhundert völlig überfordert war. So sind seine Äußerungen Allgemeinplätze. Er hat keinerlei Plan und nicht die Kraft, die Privilegien des Erzbischofs und des Adels zu beschneiden. Das überlässt er dann auch seinem Premierminister. Und so beginnt dann auch ein äußerst unterhaltsamer Theaterabend, als der Nationalversammlung der Ernst der Lage offenbart wird. Der Erzbischof von Narbonne erhebt sich aus der dritten oder vierten Reihe und verwahrt sich gegen staatliche Kürzungen. In dieser und weiteren Rollen wie immer überzeugend erlebt das Publikum Gerhard Mohr, der allein schon durch seine Stimmmodulation ein echter Hingucker oder besser Hinhörer ist. Schon fühlt man sich in der Gegenwart, in Verteilungskämpfen an den Fresstöpfen der Nation. Steuergerechtigkeit ist ein schönes Wort, problematisch ist das Konkrete. Auf der Bühne kommt es nach und nach zu tumultartigen Szenen, die zum Teil, während der politischen Debatten, auch nur erahnt werden können. Durch Stimmengewirr von draußen, Donnergrollen und immer wieder Unterbrechungen der Redner durch die Mitteilung aktueller Ereignisse, Plünderungen oder Lynchmorde. Neben mir sitzt eine zutiefst verängstige Abgeordnete der Nationalversammlung, die zuvor Redebeiträge noch impulsiv stützte, dann aber zunehmend in Sorge um ihre Angehörigen geriet. Politische Debatten um die Präambel zu führen, während die Menschen draußen nichts zu essen haben, ist dann auch ein Stück weit pervers. Durch die zeitliche Distanz wirkt die französische Revolution wie aus einem Guss. Das war sie natürlich nicht. Eine Vielzahl verschiedene Interessen über Standesgrenzen hinweg, innerhalb dieser Grenzen, ja, sogar innerhalb der einzelnen Protagonisten, führte zu einem Kampf, deren Frontlinien nicht klar zu erkennen war. Das hat das Ensemble des Theaters wunderbar in Szene gesetzt. „Wir schaffen das schon“ – sagt der König, doch später wartet die Guillotine. Vorher schnell noch ein Selfie.