Zu Beginn, als der kleine Saal sich langsam füllt, sitzt Fräulein Else auf einer hohen Glasvitrine und macht Musik mit einem kleinen Tasteninstrument. Fröhlich, lebenslustig, unbekümmert. Sie spreche Französisch, Englisch, ein bisschen Italienisch, sagt sie. Außerdem spiele sie Klavier. Das Leben hat nur auf sie gewartet. Wie würde wohl Arthur Schnitzlers Novelle 2018 gelesen? Und wie gespielt, wenn sie denn heute stattfände mit den technischen Möglichkeiten? Andrea Spicher hat sich an das Experiment gewagt und den U2 in Eigenregie bespielt. Gestern Abend war Premiere von FräuleinElse.com
Paul und Sissy, mit denen sich Else in einem Hotel befindet, sind draußen im Garten. Sind sie ein Paar oder nicht? Vielleicht, Else spielt mit dem Gedanken, wirft ihn hoch und fängt ihn auf. Ob Paul auch auf sie scharf ist, immerhin sei ihr Busen doch viel schöner als der von Sissy, und erst ihre Haare, ihre Schultern und überhaupt ihre ganze Gestalt. Ständiger Begleiter und auf der Bühne das Zentrum ist natürlich das Smartphone, das durch die hohe Glasvitrine dargestellt wird, mit rundumlaufender Tastatur, auf der Else wild rumhackt. Kommentare, Likes, Followers, Fotos, die Else zu einer öffentlichen Person machen. Und dann erreicht Else ein Telegramm, das als Videobotschaft auf die rückwärtige Fläche der Glasvitrine projiziert wird. Elses Mutter jammernd unter scheinbar entsetzlichen Leiden, dass nur sie, Else, den Vater noch vor dem Zuchthaus retten könne, indem sie den im selben Hotel abgestiegenen Kunsthändler von Dorsday um die Summe von 30.000 Gulden bitten könne. Spicher hat sich dabei einen besonderen Clou einfallen lassen: in der Videobotschaft spricht Gabriele Brüning als Elses Mutter. Das ist quasi die Grande Dame der Rolle, die vor kurzem 10-jähriges Bühnenjubiläum hatte. Jedenfalls bricht für die 19-jährige Else, deren Leben doch so verheißungsvoll verlief, gerade alles zusammen. Denn wie soll sie den alten, unsympathischen Knebbel dazu bringen, ihr das Geld zu geben? Diese inneren Qualen, das Hin- und Hergerissen zwischen „mach ich nicht“ und „ich frag ihn einfach“, zwischen Abscheu und Elternliebe, zwischen kurzem und geschlossenes Kleid, zwischen Pflicht und Freiheit spielt Spicher großartig. Und dann meldet sich auf Facebook, also in der Glasvitrine, plötzlich Paul, fragt nach ihrem Befinden und dann Herr von Dorsday. Gnädige Frau. Oh nein und ja. Ich muss ihn fragen. „Denk dran, Vater muss ins Zuchthaus“. Else bietet dem Kunsthändler einen privaten Videochat an „oh bitte, lehn doch ab“, den er natürlich annimmt „ich bin auch nur ein Mann“. Schließlich rückt von Dorsday damit heraus, dass er als Gegenleistung für die Summe Else 15 Minuten nackt sehen will. Sabbern, Gier, Geilheit, eine Zunge, die über die Lippen gleitet, vermehrter Speichelfluss. Von Dorsday wird ja nur kurz gezeigt, mal von hinten, und dann von vorne nur der Mund, doch die ganze Abscheu, der Ekel wird deutlich. Und als die Stimme ertönt, stellen sich selbst beim Publikum die Härchen auf. Klasse in den Einschüben ist Wilhelm Schlotterer. Das innere Martyrium geht für die junge Frau nun erst richtig los. Immer wieder zieht sie sich um, je nachdem, ob sie bereit ist, sich nackt auf der Waldlichtung zu zeigen oder eben nicht. Sich dem alten, schmierigen Wüstling zeigen? Eher sterbe ich oder vielleicht stirbt der Vater? Er hat sich das doch auch alles eingebrockt. Zwischendurch gibt es auch andere online-Angebote, etwa, dass ein unbekannter User Else nackt malen will, was diese zwar entrüstet ablehnt, aber trotzdem mit einem like versieht.
Andrea Spicher ist eine tolle Schauspielerin, die auch in der Mimik zum Ausdruck bringt, wie verzweifelt sie auf der Suche nach einem Ausweg ist, personifiziertes Leid. Trotzdem empfinde ich die Einflüsse durch E-Mail, Video- und Chat-Sequenzen als störend Eine Störung, die beabsichtigt ist und mit der wir aktuell zu leben gewohnt sind. Doch sie lenkt ab. Schließlich geht es nur um Else.