Marie Antoinette im Theater

Dass Wehmut und Trauer in der Musik unglaublich schön sein können, berühren, die Menschen mitnehmen, vereinnahmen, bewies gestern Abend das Sinfonieorchester Münster im Großen Haus. Als Solistin spielte am Cello Anne Gastinel. Generalmusikdirektor Golo Berg ließ sich die musikalische Leitung des 2. Sinfoniekonzertes nicht nehmen. Der programmatische Titel „Sollen sie doch Kuchen essen“ wird Marie Antoinette zugeschrieben. Das mag nur Legendenbildung sein, doch es umschreibt die Zeit: das Rokoko.

Mit Carl Philipp Emanuel Bach wird zunächst ein Großer seiner Zeit gespielt. Der zweitältester Sohn von Johann Sebastian war Vorbild für Mozart. Seine Sinfonia Nr. 1 dauert zwar nur knapp 11 Minuten, doch enthält soviel Wechsel, Dramatik, Ruhe, Emotion, dass man gut das Gefühl haben kann, bald sei Zeit für eine Pause. Golo Berg gelingt es aber auch, alles aus seinem Orchester rauszuholen. Später wird es sich noch groß machen, wie ein Schwan sein Gefieder präsentieren, aber auch die kleinen Gesten beherrscht er, alle Musiker sieht er und – so scheint es – auch auf die kleinsten Dissonanzen reagiert er.

Der Rest des Konzertes gehört Peter Tschaikowski, der in den Rokoko-Variationen wiederum Mozart huldigt, und bis zur Pause natürlich der Cellistin Anne Gastinel, die der Uraufführung von 1877 besonderen Glanz verleiht. Sie macht das unglaublich schnell, emotional, wehmütig im Zusammen- und Wechselspiel mit einem grandiosen Orchester. Bei der vorherigen Einführung ins Werk schwärmt Golo Berg von der französischen Cellistin, zurecht, denn ihr Spiel geht unter die Haut. Niemand traut sich zu husten oder zu knistern. Als Zugabe gibt es Bach „la deuxieme“ sagt Gastinel und weil sie sich nicht sicher ist, ob man sie verstanden hat, zeigt sie noch zwei Finger. Und dann endlich ist Pause und das Auditorium hat Kraft sich zu sammeln für einen zweiten Teil, der es in sich hat.

Denn Tschaikowskis „Pathétique“ ist schon allein deswegen außergewöhnlich, weil sie starke autobiografische Elemente enthält, ja weil sie sie seine Abschiedskomposition ist. Wenige Tag nach der Uraufführung am 28.10.1893 verstarb Tschaikowski, und es gibt allerlei Mythenbildung. Selbst Golo Berg erscheint es zu viel Zufälle zu geben. Doch zur Musik selbst: „Pathétique“ ist ein Füllhorn, Ausdruck eines traurigen, leidenden Lebens, Zerrissenheit und innere Kämpfe. Man taucht ein in die Musik und kommt kaum an die Wasseroberfläche. Da drückt der letzte Satz das Publikum noch mal richtig runter, sodass man innerlich nach Luft schnappt. Dafür sorgt die Instrumentierung, das tief-brummende Fagott in doppelter Besetzung, natürlich die Streicher, die Querflöten, die Raum für sich bekommen, die Posaunen. Man spürt das Leid, und es kommt nicht von ungefähr, dass der Generalmusikdirektor erklärt, er habe in der nachmittäglichen Probe auf diesen letzten Satz verzichtet, „um Abnutzungserscheinungen vorzubeugen“.

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