Vorsicht zerbrechlich ! Schuld und Sühne

Wie eine Wagenburg sind vier große Leinwände zusammen geschoben. Die Zuschauer ziehen ihre Schuhe aus und schlüpfen in die Mitte, wo vielleicht 10 Stühle stehen. Die meisten Menschen sitzen aber auf Matratzen oder Kissen. Zwischen all den Sitzgelegenheiten auf weichen roten Teppichen, befindet sich der schwarze Holzboden des kleinen Hauses in Form eines großen Kreuzes. Zitternd, in zerrissenen Hemd steht darauf Rodion Romanowitsch Raskolinikow. An Tag 5 des NRW-Theatertreffens ist das Theater Oberhausen zu Gast in Münster mit einer Bühnenfassung von Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“.

Diese Inszenierung von Bert Zander ist in vielerlei Hinsicht besonders. Neben der ungewöhnlichen Anordnung und Beschaffenheit der Sitzgelegenheiten, ist auch nur ein Schauspieler live anwesend, dessen Seelenqual, dessen Gewissensbisse, dessen Handlungen und Denken. Christian Bayer ist Raskolinikow. Doch auf die vier Wände der Wagenburg werden Menschen projiziert, Menschen in historischen Kostümen, die dem Roman entsprungen sind, die Mutter, die Schwester, deren Bräutigam, befreundete Jurastudenten, Polizisten, Richter. Filme laufen da, manchmal auf allen Leinwänden gleichzeitig, die Gesichter riesengroß, abgewandt oder gleichzeitig im Profil oder frontal. All diese Menschen sind im Dialog mit dem Protagonisten, der – so der Stoff dieses großartigen Kriminalromans – in St. Petersburg eine alte Pfandleiherin und deren Schwester erschlagen hat.

Und dann gibt es etwa 70 Oberhausener Menschen, die in kurzen Sequenzen den Fortgang der Geschichte erzählen, im Hintergrund das eigene Wohnzimmer, das Stadion, der Rhein, der Bahnhof, in dem später der Bräutigam der Schwester mit Köfferchen auch verschwindet. Dem Regisseur gelingt es so, den Roman mit der heutigen (Stadt-) Gesellschaft zu verschmelzen. Die Oberhausener, die hier zu Wort kommen, lesen ja nicht vor. Sie erzählen und das eben in der ihnen eigenen Sprache, was natürlich einiges der schönen Formulierungen Dostojewskis abschleift, doch den Roman auch ins hier und jetzt holt. Es kann ja nicht schaden, Dostojewski trotzdem zu lesen.

Zwischen all diesen Videoausschnitten steht dann dieser etwas abgerissene, mittellose ehemalige Jurastudent Raskolnikow. Das Auditorium wird Zeuge, wie er, der ständig auf Zahlungen der Mutter angewiesen ist, die Tat plant, minutiös, wie er sich die Axt besorgt, sie in Schleifen in seinen Mantel hängt, bei der Pfandleiherin klingelt, die Tür aufdrückt und schließlich ihren Schädel zertrümmert. Dostojewski war nicht zimperlich in der Schilderung, und dann ist da plötzlich noch die Schwester, mit der Raskolnikow nicht gerechnet hat. Und wie sich schließlich langsam, Zug um Zug die Schlinge enger um den ehemaligen Studenten zieht. Unglaublich authentisch, wie Christian Bayer da steht, zitternd, gehetzt, schreiend, sich in eine Videoprojektion flüchtend. Selbst bei den Zuschauern mag die Körpertemperatur gestiegen sein. Dreieinhalb Stunden ist Bayer Raskolinikow. Eine großartige Leistung und ein beeindruckender Theaterabend, der mal so ganz anders war.

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