Großer Bahnhof in der Waldorfschule

Man ist ja schon gewohnt, dass Ingo Budweg alljährlich Inszenierungen der Superlative in den Konzertsaal der Waldorfschule zaubert – tolle historische Kostüme, ein grandioses Orchester, ein umwerfendes Bühnenbild, eine fein abgestimmte Technik mit ständig wechselnden Licht- und Toneffekten. Umso wichtiger ist es, diese Musicals nicht einfach als üblichen gesellschaftlichen Teil der Kulturszene Münster anzusehen. Gestern Abend war Premiere, sogar Deutschland-Premiere, des Musicals „Parade“.

Die Geschichte beginnt Ende April 1913, am Konföderiertengedenktag. Leo Frank, Jude aus den Nordstaaten, ist seiner Frau Lucille zu Liebe nach Atlanta, Georgia gezogen, hat aber mit den Feierlichkeiten so überhaupt nichts am Hut. Stattdessen geht er lieber in seine Fabrik, in der Bleistifte hergestellt werden.  Lucille verabschiedet sich von ihrem Gatten, macht eine kleine Bemerkung über die Vermehrung von Menschen, die ja schon in der Bibel genannt werde. Leo reagiert durch Erröten und jedem ist klar: Leo ein Schaf, zurückhaltend, pflichtbewusst, ernsthaft. Schon sieht man ihn in der Fabrik Bleistiftpackungen zählen, Preise addieren, was ein Fabrikbesitzer halt so macht. Doch wird sein Tun durch Mary Phagan gestört. Die 13-jährige schraubt normalerweise Radiergummis an die Stifte und will heute ihren kargen Wochenlohn abholen, um mit ihren Freunden ins Kino gehen zu können. Leo zahlt die Summe aus. Schon verdunkelt sich die Szenerie und das Auditorium holt den Fabrikbesitzer mit Officer Ivey und Detective Starnes ab. Auf Leo Frank fällt ein furchtbarer Verdacht: er soll Mary Phagan missbraucht und getötet haben. Großartiger Schwenk von der linken, vorderen Bühne über die Hauptbühne hin zum rechten, vorderen Bühnenrand. Vom Heim über die Fabrik bis in Gefängnis. Das alles natürlich mit entsprechend dramatischer Musik untermalt. Streicher sind da schon beeindruckend emotional und der Gesang von Katharina Datan in der Rolle der Lucille Frank, leidend, unerschütterlich liebend, fest zu ihrem Mann stehend ist wunderschön. Von der 23-jährigen Lehramtsstudentin sollten wir noch mehr hören. Einstweilen besucht sie als Lucille ihren Mann im Gefängnis, der davon ausgeht, noch am selben Abend wieder zu Haus zu sein. Doch die Schlinge um Leo zieht sich enger. Was braucht es um den Mob zu aktivieren? Damals gab es noch kein Internet, doch Zeitungen hatten Medienmacht. Britt Craig, erfolgloser, dem Alkohol zugewandter, etwas schmieriger Schreiber taucht auf, und zwar überall, wo man es sich vorstellen kann, selbst auf dem Begräbnis der kleinen Phagan, die im weißen Sarg auf die Bühne getragen wird. Immer ein Notizbuch in der Hand macht Craig sogar vor Leos Frau keinen Halt, heuchelt Verständnis und suggeriert Nähe. Und immer wenn man sich emotional so richtig reinfühlt in eine Situation, wenn man tiefer sinkt in seinen Sessel, dann wird man daran erinnert, dass man ein Musical sieht. Da wird plötzlich eine hinreißende Choreographie gezeigt mit Craig im Zentrum (wunderbar:Sönke Westrup), eine Zeitung unterm Arm, um ihn herum lauter Tänzerinnen, die Druckerzeugnisse knicken, falten, wirbeln. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, gekaufte Zeugen, schwache Verteidigung, eine aufgehetzte Menge selbst im Gerichtssaal. Kreischen, schreien – der Vorsitzende Richter kann sich kaum Verhör verschaffen. Leo kann einem leid tun, doch die Heldin ist seine Frau Lucille, die so ohne jeden Zweifel zu ihm hält, für ihn kämpft, obwohl sie selbst  angegangen wird.

Auch in der mittlerweile 150. Vorstellung und 16. Produktion beweist das freie Musical-Ensemble, dass es mit seinen Mammutwerken unverzichtbarer Teil von Münster ist. Sämtliche Musiker, Sänger und Statisten treten ohne Gage auf. Das verdient großen Respekt. Ein kleines Bonbon hat das Ensemble in der aktuellen Produktion auch noch parat: Frank Janßen in der Rolle des Leo Frank ist im zivilen Leben ausgerechnet Richter.

Schreibe eine Antwort

Navigiere