vom Ghetto am Hafen

1941 – Die Nationalsozialisten gründen das Ghetto Wilna in der Hauptstadt von Litauen, in das die Deutschen Besatzer die jüdische Bevölkerung sperren. Zum größten Teil wird die jüdische Gemeinde im nahegelegenen Ponar ermordet – von anfangs 76.000 Menschen leben nachher noch ganze 16.000. Das Ghetto Wilna ist der Ort für Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“, das insofern ganz besonders ist, weil unter extremen Bedingungen auch zahlreiche Musikstücke und Choreographien eingearbeitet werden. Nun zeigt das Wolfgang Borchert Theater unter Regie des Intendanten Meinhard Zanger „Ghetto“ an Münsters Hafen.

Der kulturaffine Nazi-Offizier Kittel, selbst Saxophonist und Klavierspieler, erkennt „Kulturtalente“ im Ghetto, Schauspieler, Sängerinnen, Musiker – das auch nicht so schwierig ist. Immerhin nannte  man Wilna oder heute Vilnia das Jerusalem des Ostens. Besonders angetan hat es ihm die Sängerin Chaja, die auffällt als sie Bohnen schmuggelt. Nur dem Einsatz des Puppenspielers Srulik hat sie zu verdanken, dass sie nicht direkt hingerichtet wird. Allerdings muss sie verlorene Bohnen abarbeiten, genaugenommen muss sie singen. Da all diejenigen Juden, die im Besitz einer Arbeitserlaubnis sind und auch tatsächlich arbeiten, vorerst nicht ermordet werden, bemüht sich der jüdische Leiter des Ghettos, Jakob Gens, die Sache noch größer aufzuziehen, also mit Tanz, Musik, Kabarett. Das rührt auch SS-Mann Kittel „jüdischer Geist und deutsche Seele“. Allerdings freuen sich längst nicht alle darüber. „Auf dem Friedhof“, sagt dann auch Bibliothekar Kruk „spielt man kein Theater.“ Der Riss geht auch nicht nur durch die jüdische Gemeinde sondern auch durch die Personen selbst und überträgt sich gar auf das Auditorium, das nach einzelnen Gesangsdarbietungen, Klarinetten- oder Klavierspiel nicht so recht weiß, ob es klatschen soll. Mal ja, mal nein, mal ein bisschen. Dafür ist die Sache zu ernst und sorgt für Gänsehaut. Und trotzdem ist das manchmal auch komisch, nur um in nächsten Moment wieder emotional alles zu fordern. Etwa als der Kinderchor mit Judenstern singt, hell, zart und flehentlich. Oder als laute Schüsse aus der Maschinenpistole die Ruhe zerfetzen. Und natürlich bleibt dem normalen Homo Sapiens unbegreiflich, wie der Mann mit der Hakenkreuzbinde es schafft, deutsche Klassik zu klimpern, während direkt daneben Menschen im Todeskampf ringen. Dabei ist die Bühne in ihrer Schlichtheit genial. Im Bühnenrücken läuft in einer Höhe von etwa zwei Meter ein Metallsteg mit Handlauf, links und rechts Treppen. Doch die Schauspieler können den Steg auch von der Seite aus betreten, also vom Publikum aus nicht sichtbar. Durch den Kniff wird die Bühne vergrößert. Bis zu 50 Personen sind dort gleichzeitig aktiv. „Das ist einmalig in der Geschichte des Borchert-Theaters“, berichtet Dramaturgin Tanja Weidner auf der vorherigen Einführung. Unter dem Steg befinden sich große Tore, die nach Bedarf immer wieder aufgestoßen werden. Männer in Uniform mit Waffen rufen Befehle, alles wird mit Scheinwerfern angestrahlt – auch die Zuschauer im Saal, die sich beinah ertappt, zumindest aber sehr unwohl fühlen.

Bestnoten haben sich Florian Bender als Puppenspieler Srulik und seine kongeniale Bühnenpartnerin Rosana Cleve als Puppe Lina verdient. Die Rollen dürften beiden einiges abverlangt haben, denn Srulik war gleichzeitig Bauchredner. So mussten die Mundbewegungen synchronisiert werden, Lina auf jeglichen eigenen Willen verzichten, manchmal lag sie einfach auf der Treppe rum. Schön auch der Gesang von Jannike Schubert in der Rolle der Chaja und überzeugend Johannes Langer als jüdischer Unternehmer Weiskopf, der nur seinen eigenen Vorteil sieht und nicht die Möglichkeit, Hunderte von Menschenleben zu retten. Eine eindrucksvolle Inszenierung, die es immer versteht, Gefühle zu wecken, Wut, Trauer, Hilflosigkeit. Ein Stück, das in die Zeit passt, aktuell auch wegen des Jahrestages zur Befreiung von Ausschwitz und darüber hinaus.

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