über die Berge und über das Meer

Immer mehr Menschen betreten das Restaurant Meran in Hansell, nehmen auf den seitlichen Couchgarnituren oder auf den Holzstühlen an den Tischen Platz und bestellen sich einen Cappuccino. Schnell kommt man hier – so scheint`s – ins Gespräch, denn es herrscht eine warme Atmosphäre mit einem Grundton wie in einem Bienenstock, ein leichtes Summen.  Für 15.00 Uhr hat sich gestern Dirk Reinhardt angesagt, der aus seinem Buch „Über die Berge und über das Meer“ liest. In Reinhardts inzwischen sechstem Buch geht es wie bei seinen „Train Kids“ um eine Fluchtgeschichte. Aber anders als in jenem Roman, ist diesmal Afghanistan der Ausgangspunkt.

Und dann, mit dem akademischen Viertel Verspätung, beginnt Reinhardt, erzählt erstmal von Soraja, siebte Tochter einer ärmlichen Familie, die, um gesellschaftlichen Repressalien zu entgehen, als Junge verkleidet zu Samir wird. Damit ist der Zuhörer im gut gefüllten Saal im Stoff. Und als Reinhart dann liest, mit der ihm eigenen Art, wie er das E am Satzanfang etwas dehnt, wie die Mimik das Gelesene unterstreicht, ist natürlich das Summen des Bienenstocks längst verstummt. Die Menschen im Meran sind dabei, als Samir zielsicher aus einer Horde Jungs herausgeangelt und mit einer Peitsche geschlagen und einer Schlinge um den Hals nach Hause gestoßen wird.

Zwischen den einzelnen Passagen macht Reinhardt immer wieder kleine Pausen und erklärt grob, wie sich die Geschichte entwickelt. Dieser Wechsel vom lesen zum erzählen steigert Aufmerksamkeit und Neugier. Es gibt mit Tarek noch einen zweiten Protagonisten, einen Nomadenjungen, der zuständig ist für das Wiederfinden und Zurückbringen verirrter Schafe. Tarek kann, wie das dort üblich ist, weder lesen noch schreiben. Dafür erkennt er anhand der Ausscheidungen der Schafe, kleinster Wollfäden an Dornen oder Spuren am Gestein, wo sich Tiere aufhalten. Doch die Herde wird immer kleiner und so reicht es, wenn Tareks älterer Bruder die Aufgaben übernimmt. Tareks Reise soll gen Westen gehen.

Beide, Soraja (als Samir verkleidet) und Tarek fliehen über den Iran in die Türkei. Dabei nehmen sie eine ähnliche Fluchtroute, begegnen sich aber nicht oder nur kurz. Ob Tarek bei dieser einen kurzen Begegnung vom Simorgh, jener persischen Sagengestalt, dem Schutzvogel mit übernatürlichen Kräften, erzählt oder die Geschichte eine andere war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kommt Tarek nicht dazu, zu ende zu erzählen. Soraja muss lange auf das Ende warten

Man merkt an der Art des Vortrags, dass Reinhardt es gewohnt ist, vor Schulklassen zu lesen und Lesereisen durch ganz Deutschland macht. Nie kommt Langeweile auf und die Passagen geraten nicht zu lang. Im Anschluss kann das Auditorium Fragen stellen und so erfährt man, dass Reinhardt die Idee, den Roman in Afghanistan zu verorten, bei seinen Lesereisen von „Train Kids“ kam. Immer wieder haben ihn Flüchtlinge aus dieser Region angesprochen.

Viele der Menschen, die der gestrigen Lesung im Meran beiwohnten, blieben zum Essen in dem gemütlichen Restaurant, eine Gemütlichkeit, die vor allem der Einrichtungsberaterin Andrea Wommelsdorf zu verdanken ist. Passend zum Thema hatten Fa und Patrick Stiller ein arabisches Menü gezaubert. Ein schöner Tag.

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