tolle Tänzer*innen im Turm

Sind das schon postpandemische Zeiten oder müssen wir uns erst langsam an die Normalität gewöhnen? Im Theater stehen die Zeichen klar auf letzterem. Nur jede zweite Reihe ist besetzt, und auch nur spärlich, viele Sitze sind ganz verhüllt, Durchgänge abgesperrt, die Ränge gar nicht besetzt. Die wenigen Menschen im Großen Haus tragen durchgehend eine Mund-Nase-Bedeckung. Gestern durfte Hans Henning Paar endlich – nach langer Zeit des kulturellen „Präsenz-lockdowns“ – seine Inszenierung „der Turm“ zeigen.

Man spürt die Erwartung, die Freude, die Erregung des Publikums, das so lange warten musste, als die ersten Worte „kidnapped, captured, locked“ ertönen und die Stille zerreißen. Spätestens mit „Rapunzel“ ist klar, worum es geht, nämlich um die Isolation, in die Covid19 geführt hat, das alleine sein, was sich eben auch im „alleine tanzen“ zeigt. Im Bühnenrücken ein großer Turm aus Stühlen, der – so wird man später sehen – dreh- und begehbar ist. Passend dazu die „minimal music“ von Philip Glass, ständige Wiederholungen kleinster motivischer Zellen, eine Art musikalische Sogwirkung. Alle Tänzer*innen haben ihren eigenen Stuhl, der für den Turm steht. Jede/r befindet sich somit in eigener Isolation und trotzdem gelingt es zu Beginn eine Harmonie der Bewegungen zu erschaffen. Allerdings lässt das nach und es wird deutlich, dass das nicht ohne Folgen bleibt. So hat jede/r eigene Kämpfe zu fechten. Es scheint, als machte sich eine Form von Hospitalismus breit. Als die Musik an Dynamik gewinnt, gibt es dann doch einen Paartanz. Wie schön, wenn man zusammen lebt und die Grenzen der Pandemie draußen verlaufen. Nach meiner Einschätzung hätte dieser Teil jedoch arg eingedampft werden können, ein verstohlener Blick auf die Uhr, weil das gar nicht enden wollte, und die armen übrigen Tänzer*innen als bloßes Beiwerk verkamen, die quasi wie ein Background-Chor fungierten, fast festgetackert auf dem Bühnenboden. Insgesamt war das jedoch eine großartige tänzerische Leistung, immer wieder mit Überraschungen, ein rotes, starkes Seil, aus dem eine Art Boxring gebildet wurde, ein Gefängnis, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gab, Gesichtsmasken und einen gefiederten Tänzer. Die Gedanken sind ebenso frei wie die Fantasie. Dass die Tänzer*innen in Münsters Theaterensemble überzeugen, ist ja auch bekannt. Mir fehlte es an der Klammer, die das Ganze zusammenhält, ich wünsche mir mehr Guss als Schweißnähte, mehr Rührteig als Mehl, Eier, Butter. Aber ich kann da auch nur für mich sprechen und habe die folgenden standing ovations mehr als Freude über die grundsätzliche Theateröffnung begriffen.

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