1.000 Radkilometer durch Frankreich oder 622 Euro Taxikosten

Ich habe die Bilder von Paul Cézanne vor Augen, wenn ich durch Südfrankreich radle, es sind die Farben und Formen, die ineinander fließen, während ich spüre, wie ich meine Akkus auflade. Eigentlich wollte ich in diesem Sommer an die Memel fahren durch Litauen ans Kurische Haff, doch ich hatte Andrea so von Frankreich vorgeschwärmt, dass wir zusammen zunächst noch einmal Richtung Mittelmeer radelten. Litauen läuft nicht weg.

Und es war auch anders diesmal, Andrea und ich sind nicht das erste mal zusammen geradelt. Dass sie gut in Form ist und nicht nach 50 Kilometern zu jammern beginnt, war mir klar. Ein bisschen holprig war die Anreise aber mit Zugausfällen muss man rechnen, kleine Umwege, die dann schon mal zu einer Übernachtung in Bruchsal führen, zum außerplanmäßigen radeln nach Breisach am Rhein und zum entnervten Umsteigen in den Zug in Karlsruhe. Doch in Freiburg ging es dann los, an der Dreisam entlang Richtung Frankreich kam schnell das Gefühl auf, das ich beim radeln größerer Touren regelmäßig habe, diese Mischung aus Bewegung und Natur, aus Ruhe und kleinen, zufälligen Begegnungen. Gerade diese Begegnungen hat man ja nicht, wenn man mit dem Auto unterwegs ist, vielleicht an der Sanifär-Autobahntoilette, aber nicht wie wir, als wir uns bei Regen unter einer Brücke unterstellten und dort eine ganze Weile mit einem Schweizer Paar sprachen, das begeistert von einer dreimonatigen Radtour durch Südostasien berichtete. Später kamen Kanadier hinzu, die unterwegs waren vom Schwarzen Meer zum Atlantik, eine Tour, die ich im übrigen in großen Teilen auch schon gefahren bin. Montbéliard (früher Mömpelgard), Baumes-les-dames, Bésancon – die Strecke am Doubs bin ich nun schon zum dritten mal geradelt – aber sie lohnt sich und ist Teil der Via Rhona, dem Radweg, der vom Genfer See zum Mittelmeer führt, aber leider zum Teil sehr schlecht ausgeschildert ist. 100 Kilometer täglich hatten wir uns vorgenommen, und das war auch ein nötiger Schnitt, wenn wir unser Ziel Avignon erreichen wollten. Leider hat mich die Erinnerung etwas getäuscht. In dieser, meiner Erinnerung, bin ich zwei Jahre zuvor ausschließlich an Gewässern entlang bis Marseille am Mittelmeer gefahren. Auf Detailkarten habe ich deshalb verzichtet und stattdessen nur eine grobe Übersichtskarte mitgenommen. Sicher kann man auch nachvollziehen, dass Andrea ziemlich gestresst war, als uns mein Navi über kaum befahrbare Wege zwischen Kieslaster und Sägewerk führte. Doch zum Glück trafen wir einheimische Passanten, die uns über die Brücke auf die andere Flußseite manövrierten. Zu den beliebtesten Radstrecken im Burgund dürfte la voie bleue gehören, der Radweg von Tournus nach Macon, 30 Kilometer direkt am Ufer der Saone, den wir befuhren, nachdem wir in Seurre die Einweihung einer neuen Straße mitfeiern durften. Immer wieder diese kurzen netten Begegnungen, auf der Straßeneinweihung, auf dem Zeltplatz oder in Lyon, wo Marie-Claire einfach neben uns stehen bleibt und von der Oper und Ausstellungen erzählt, von ihren Kindern, ihrem Aufenthalt in den USA oder ihrer Tätigkeit als Kunstvermittlerin. Dass Lyon auf mich einen besonderen Eindruck macht, schrieb ich bereits zwei Jahre zuvor. Ich werde in jedem Fall noch einen separaten Städtetrip dorthin machen.

Auf einem Zeltplatz lernten wir Gerhard kennen, einen Physiklehrer, der gerade in Rente ging und dies nun mit einer ausgedehnten Liegeradtour durch Europa feiert. Die Franzosen bewunderten das Liegerad, waren sich aber über dessen Motorisierung uneins. Mit Gerhard fuhren wir dann zwei Tage gemeinsam über Brücken, an Saone und Rhone, durch Weinberge bis Avignon. Gerhard führt seinen eigenen Blog, auf den ich hier gerne verweise, mit tollen Fotos und Beschreibungen (http://www.gerhardjenders.de/?p=1477)

Schließlich ging es zurück mit dem Zug. Die ersten paar Umstiege klappten auch problemlos und dann kam Culmont, ein kleines Städtchen im Nordosten Frankreichs, an dessen Bahnhof wir den Zug nach Mulhouse nehmen mussten. Der Zugbegleiter, der sich etwas großspurig „Chef du train“ nannte, weigerte sich, uns mitzunehmen, weil angeblich kein Raum für die Räder da war. Doch viele Mitreisende machten Platz und setzten sich für uns ein. Es nutzte nichts, der „Zugchef“ blieb hart. Es wurde diskutiert und telefoniert, ich war mir nicht mal mehr sicher, ob wir unseren Anschlusszug in Mulhouse bekommen hätten. Auch der Bahnhofschef von Culmont schaltete sich ein, ein sehr netter Mann, dessen Hose falsch geknöpft war. Andrea vergoss ein Tränchen, das den Bahnhofschef rührte, aber den Zugchef kaltließ, ein Pfiff und weg war der Zug. Wir diskutierten mit weiterem Personal vom SNCF, der staatlichen Eisenbahngesellschaft in Frankreich. Inzwischen hatte sich noch ein Lokführer hinzugesellt und ein Herr ohne Uniform, der aber ebenfalls mit Funkgerät ausgestattet war, was bekanntlich mit dem Attribut „wichtig“ übersetzt werden kann. Schließlich schickte man uns in eine Pizzeria, wo wir – ganz nebenbei – eine Familie aus Coesfeld kennenlernten. Der nächste Zug käme in etwa zwei Stunden, man wolle uns schon mal anmelden.

Als wir zurückkamen, begrüßte uns der Bahnhofschef, dessen Hose nun zurechtgerückt war, mit dem Satz: „Nous avons un problème“. Der folgende Zug sei zu voll. Freundlicherweise hatte man uns aber ein Großraumtaxi bestellt, in das tatsächlich mit ein bisschen Quetschen beide Räder mit diversem Gepäck passten. Wie weit war es bis Mulhouse? Der Zug fuhr planmäßig schon zwei Stunden. Wie lange würde ein Auto brauchen? Nach einer ganzen Weile, das Taxameter stand schon bei über 30 Euro, sah ich ein Schild mit der Aufschrift „Mulhouse 150 Kilometer“. Da dachte ich noch, dass die Eisenbahngesellschaft bestimmt 200 Euro würde zahlen müssen. Tatsächlich wurde es ein Betrag in Höhe von 622 Euro, als uns die Fahrerin vor dem Bahnhof in Mulhouse absetzte.

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