eine Erdbeere, ich will eine Erdbeere

Holzfässer, Schiffsplanken, Segeltuch – alles, was irgendwie nicht untergeht, ist zu einem riesigen Floß zusammengeschnürt, das fast die gesamte Bühne im Kleinen Haus bedeckt. Im Hintergrund türmen sich hohe Wellen auf der Leinwand, bedrohlich mit Schaumkronen sich auftürmend und wieder in sich zusammenfallend. Gestern Abend zeigte das Theater Münster „Das Floß der Medusa“ in einer Inszenierung von Stefan Otteni nach dem Roman des Österreichers Franznobel-

Ganz am Anfang wird noch das großformatige Kunstwerk „das Floß der Medusa“ des französischen Künstlers Théodore Géricault, das heute im Louvre hängt, im Hintergrund an die Wand projiziert. Aber sobald alle Schauspieler ihren wenigen Platz auf dem zusammengezimmerten Wasser-Vehikel eingenommen haben, befinden wir uns in der Eingangsszene.

Die Fregatte Méduse mit fast 400 Menschen an Bord war 1816 unterwegs von Frankreich nach Senegal. England hatte die ehemalige französische Kolonie zurückgegeben. Zum Schutz des überseeischen Besitzes schickte die Regierung in Frankreich Verwaltungsbeamte und Forscher in den Senegal. Jedoch segelte das Schiff unter Leitung des unfähigen Kapitäns Huges Duroy de Chaumareys (sehr schön gespielt von Carola von Seckendorff), der keinerlei nautisches Geschick besaß, nicht auf seine erfahrenen Offiziere hörte und schließlich auf eine Sandbank lief. Es gab nicht genug Rettungsboote und so zimmerte man aus Bootsteilen ein Floß, das Platz für 150 Menschen bieten sollte. Das Floß wurde schließlich an die Boote angebunden und hinter den Rettungsbooten hergezogen. Doch alsbald kappte man die Seile.

Und nun entwickelt sich die eigentliche Geschichte, eine Geschichte zwischen den letzten Wasservorräten, Hunger und Sonne, verzweifelter Suche nach Rettung, winken, schreien und immer mehr Verlust dessen, was Menschen ausmacht. Während sich nun die Schiffbrüchigen mit Widerwillen dazu entschließen, Körper von Ertrunkenen in Streifen zu zerschneiden, zu verspeisen und eigenen Urin zu trinken, singt die Medusa in meerblauem Kleid mit dreadlocks, eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, aus einer erhöhten Himmels-Position. Dazu spielt sie eine Art liegendes Akkordeon, flehentliche, mystische Musik, die einem unter die Haut geht, großartig in Person von Mariana Sadovska. Carola von Seckendorff in einer Doppelrolle, neben dem kunst- und musikliebenden Kapitän  ohne jegliche nautische Ahnung, dafür mit argen Verdauungsproblemen auch den 12-jährigen Schiffsjungen Arnaud. Ihm wird ein Unterschenkel amputiert, und er beginnt zu fantasieren: „eine Erdbeere, ich will eine Erdbeere“ und schließlich wird er über Bord geworfen, damit mehr für die anderen bleibt.  Andrea Spicher als Viktor spielt energiegeladen mit langer Rede, authentisch und inbrünstig. Es gibt immer wieder Gewalt, Kampf um das bisschen, was da ist und wenn es nur Platz ist. Einzig das nackte Überleben gilt es zu sichern, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Auf den Gedanken, „dass die zivilisierte Welt dieselbe ist wie auf dem Floß“ kann man da schon kommen. Und noch eine weitere Komponente hält das Stück bereit, dass nämlich die Situation mit den ertrinkenden Menschen und der zuschauenden Welt heute ganz ähnlich ist, denkt man an das Mittelmeer.

Ein tolles Stück mit beeindruckender schauspielerischer Intensität.

 

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