offene Schädelverletzungen im Theatertreff

Skelette an den Türen, schaurig-schöne Pendeluhren, ausgehöhlte Kürbisse. Lüster, von Spinnweben eingehüllt, beleuchten schwach den langen Tisch, an dem allerlei Kreaturen sitzen, vor sich die Speisekarte. Die enthält eine ganz besondere Menüfolge. Denn das Theater Münster hat gestern Abend in den Theatertreff geladen zur „Literarischen Schauerstunde“.

Wer also Wildschweinragout und Preiselbeeren sucht ist falsch, Heinrich Heine und Edgar Allan Poe steht auf dem Plan. Sechs Schauspieler rezitieren Gruselklassiker, passend dazu wird natürlich ein Spukschloss an die Wand projiziert und die Theaterleute sind entsprechend aufgehübscht. Bis es um kurz nach neun losgeht, werden die Gäste schon mal akustisch eingestimmt, ein Schrei hier, eine schlurfende Kette da. Zu Beginn stellt sich das „gesamte Küchenteam“ vor, in dem sich alle Schauspieler im Raum verteilen und Heines „Belsatzar“ verteilt vortragen, jene Ballade, in der der babylonische König Belsatzar Jehova lästert. Daraufhin erscheint eine Flammenschrift an der Wand, die den baldigen Untergang des Reiches verkündet. Es dauert nicht lange bis die Vortragenden auf Betriebstemperatur sind und nicht nur lesen sondern auch tatsächlich spielen. In Stephen Kings „Es“ führt Tom Ohnerast als Erzähler ein, von einem kleinen Leselicht dämmrig beschienen. Die Geschichte von dem Jungen Georgie, dessen Papierboot auf dem Wasser in der Gosse immer schneller fährt bis es schließlich in einem dunklen Gully verschwindet. Natalja Joselewitsch ist Georgie. All ihren Schmerz ob des Verlustes kann sie so glaubhaft überbringen, dass  man richtig mitleidet. Dann der Blick in den düsteren Schacht. Darin sitzt doch tatsächlich – nein, das kann doch nicht sein – ein Clown. Großartiger Auftritt von Christian Bo Salle, der mit Clownsmaske und grellrotem Haar plötzlich auf die Theke springt. „Riechst Du den Zirkus, Georgiii, willst Du Dein Papierboot wiederhaben? Willst Du einen Ballon?“ Georgi ist verwirrt, er riecht Pferdemist, Sägespäne und doch auch Verwesendes. „Georgiii“, flötet der Clown, grinst und hält das Boot in der Hand, „was ist mit Deinem Boot?“ Georgie nähert sich dem Gully, der Theke und schwups schon hat der Clown ihn runter, hinter die Theke gezogen, Schreie, zuckende Gliedmaßen. Das nimmt das Auditorium natürlich ein – so viel Authentizität – das  müssen sogar jene Zuschauer honorieren, die mit Pflock im Kopf am Tisch sitzen.

Alle folgenden Texte können nicht mehr an das Niveau heranreichen, auch wenn Christian Bo Salle in „Marina“ von Carlos Ruiz Zafón noch einmal demonstriert, wie gut er modulieren kann, leise, panisch, flehentlich. Doch das Auditorium ist in der richtigen Gruselpartystimmung. Um Halb elf werden schnell die Tische zur Seite geschoben und schon regiert der Beat. Da tanzen Hexen mit Frankenstein, Skelette mit Gruselclowns und offene Platzwunden stören nicht im Mindesten – eben die Party der Untoten.

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