Ingo Budweg steht ganz ergriffen vor seinem Orchester im Konzertsaal der Waldorfschule, hebt beruhigend seine Hände und presst mühsam heraus: „Nun warten Sie doch, vielleicht wird es ja ganz doof“, was dem Publikum den ersten Lacher des Abends entlockt. Soviel Wohlwollen kommt ihm und seinen Leuten entgegen. Die Menschen im Saal kennen die Aufführungen des Freien Musical-Ensembles, die alljährlich in der Vorweihnachtszeit für Furore sorgen. Diesmal hat sich das Ensemble den Stoff des Dickens-Klassikers „A Christmas Carol“ vorgenommen. In der musikalisch von Leslie Bricusse angereicherten Version heißt das Stück nur noch „Scrooge“. Gestern Abend war Premiere.
Natürlich kennt man den Plot des geizigen, kaltherzigen Ebenizer Scrooge, der freudlos sein Geld zählt und seinen Mitmenschen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnt, der Geld eintreibt, selbst in der Weihnachtszeit, in der man seinen Liebsten doch eigentlich etwas schenken oder doch zumindest einen Truthahn kaufen möchte. Auf der Gegenseite dann die armen Menschen, rein und vom Schicksal getroffen wie Bob Cratchit, Angestellter von Scrooge, dessen Sohn Tim krank auf einer hölzernen Krücke humpelt. Der Gesang von Tim (Jon Engel) gehört dann auch zu den Highlights des Abends, so glockenrein und glasklar, emotional und berührend. Da kann man schon mal ein Klößchen im Hals haben. Bob Cratchit, überzeugend auch Simon Linke, muss sich schon sehr ins Zeug legen, dass er den ersten Weihnachtstag frei bekommt, schließlich möchte er doch mit seiner Familie feiern. Scrooge kann das kaum nachvollziehen und gibt ihm nur widerwillig unter der Auflage frei, dass er am folgenden Tag früher kommt.
Schon ändert sich das Bühnenbild, was, nebenbei bemerkt, fleißige Hände im Hintergrund großartig schnell und professionell bewerkstelligen. Scrooge kommt nach Hause, schält sich aus seiner Hose und sucht seine Nachtmütze. Da erscheint ihm der Geist seines vor sieben Jahren verstorbenen Geschäftspartners Jacob Marley mit geweißtem Gesicht, um seinen Hals eine schwere Kette, geschmiedet aus Gier. Ein toller Auftritt, ein bisschen gespenstig, mit fröstelnd machender Stimme von Melvin Schulz-Menningmann. Der kündigt drei weitere Geister an. Und da nutzt es gar nichts, die Erscheinung als Folge einer Darmerkrankung abzutun. Sie ist real, was Marley durch Einsatz von ein bisschen Gewalt demonstriert. Das sind die Stellen, wo das Licht leicht hochgedimmt wird und das Orchester die Stimmung verstärkt.
Auch in der folgenden Nacht erscheint ihm ein Geist, der Geist der letzten Weihnacht, der Geist der verstorbenen Schwester, die ihm (und dem Auditorium) Blicke auf die Vergangenheit werfen lässt. Da wird ihm ganz anders und als die Streicher eine melancholische Stimmung erzeugen, würde Scrooge wohl ganz gerne auf die weiteren Geister verzichten. Doch da muss er dann durch. Denn der Geist der gegenwärtigen Weihnacht lässt sich nicht aufhalten. Sonja Roeske singt in tiefem Alt so inbrünstig und ist doch auch urkomisch, dass auch Carsten Jaehner als Scrooge richtig aufblüht, was allerdings am Alkohol liegen mag, den der Geist der gegenwärtigen Weihnacht im Pokal reicht. Fortan wirkt auch Scrooge gelöster und es sorgt für Gelächter, wie Ebenizer sich da unter Gesellschaft mischt und lallend und unerkannt Schabernack treibt. Doch wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.
Ernst wird die Angelegenheit mit dem Erscheinen des dritten Geist in Mönchskutte, der sich schon gar nicht mehr die Mühe macht, zu sprechen. Zu aussichtslos erscheint die Lage. Konnte Scrooge zuvor noch einen Blick in das ärmliche aber liebevolle Zuhause der Familie Cratchit werfen und eben jenen Tim so wunderschön singen hören, geht es nun um Scrooges Zukunft, die alles andere als rosig ist.
Eine wunderbare, mitreißende Inszenierung „die 17. Premiere und 150. Aufführung“ in der soviel Liebe steckt, Liebe zum Detail, zur Kultur, zum Mitmenschen. Eine tolles Bühnenbild mit den Häuserfassaden und dem Spielwarenladen von Mr. Pringels, rauchenden Schornsteinen und so vielen historischen oder doch historisch wirkenden Kostümen, Ballkleidern und Zweireihern. Tiefer Respekt für alle Mitwirkenden.