nach New York in 6 Tagen

Wüsste man nicht, wie das Stück heißt, das Ingo Budweg und sein Ensemble da auf die Bühne bringen, man hätte es wohl schon nach den ersten Takten des üppig besetzten Orchesters erkannt, so dramatisch klingen die Streicher, so sehr peitscht die Gischt, so riesig nähert sich der Eisberg. Zum 20-jährigen Jubiläum spielt das Freie Musical-Ensemble Münster auf und vor der Titanic, die eigens im Konzertsaal der Waldorfschule Gievenbeck geparkt ist. Gestern war Premiere.

Southampton 10.04.1912. Die RMS Titanic wird für die Jungfernfahrt nach New York beladen, 20.000 Eier, Unmengen von Marmelade, Fleisch, Bier. Schließlich schreiten die Erste-Klasse-Passagiere, pärchenweise Arm in Arm über die Gangway, unter lästernden Tiraden von Alice Beane aus der zweiten Klasse. Alice Beane wäre selbst gerne Passagierin der Ersten Klasse, doch stattdessen betreibt ihr Mann Edgar (Frank Kasuch) einen kleinen Fahrradladen und hat es – so der Vorwurf von Alice – versäumt, rechtzeitig zu expandieren. Toller Gesang und witzige Schauspielerei von Sarah Hartmann, die Alice so viel Leben einhaucht und der man später auf dem Deck der Ersten Klasse ansieht, dass sie da nicht hingehört. Irgendwann sind alle an Bord, selbst ein Automobil der Marke Citroen. Käpt`n Edward John Smith (Christoph Bürgstein) gibt das Kommando zum Ablegen. Hoffnungsvolle, selbstbewusste Musik, die Musik von Pionieren, die die Strecke in 6 Tagen zurücklegen wollen, zumindest wenn es nach dem Willen des Reeders geht. „Wenn die Krauts das schon innerhalb einer Woche schaffen.“ Und so werden aus 19 Knoten schnell 20 und 21. Die Heizer im Maschinenraum haben alle Hände voll zu tun, schaufeln reichlich Kohlen in den glühenden Schlund und wenn die Öfen ausnahmsweise mal voll sind, zeigen sie noch eine tolle Choreografie, rußgeschwärzt, mit Schaufeln. Auch die Musik nimmt Fahrt auf, während es sich die Erste-Klasse-Gesellschaft im Salon gemütlich macht, essen, trinken, spielen, Geschichten von Heldentaten. Die zweite Klasse hat es nicht so feudal, dafür geht es da weniger steif zu. Vorwiegend irische Aussiedler tanzen zu heimatlicher Musik An dieser Stelle ein Extralob an Katharina Laukemper und Kira Bobrowski, die für die Choreografie verantwortlich sind. Da ist sogar Ingo Budweg ganz begeistert, der von sich selbst sagt, dass er keinerlei tänzerisches Talent besitze. In dieser 162. Aufführung der letzten 20 Jahre, so wirkt es, hat sich all das Wissen über Bewegungsabläufe, Musik und Koordination vereint. Das ist so gewaltig, dass das Publikum oft nur staunen kann. Immer wieder, nach jeder Szene, gibt es langanhaltenden Zwischenapplaus, dabei ist das Schiff noch gar nicht gesunken. Aber erste Eisberge wurden gesehen, weit, weit weg. Und dann malen sich die Auswanderer die Zukunft aus, was sie da machen in Baltimore, Georgia oder New Hampshire. Als Lehrerin arbeiten, als Näherin, Häuser bauen oder heiraten. Manch eine, wie Kate McGowan (Chiara Bonventre) aus der dritten Klasse, findet auf der Überfahrt ihre große Liebe. Und dann bleibt ja auch Zeit für die rosige Landpartie, ach wie schön. Unten zum Telegraphen Harold Sydney Bride (Felix Albert) findet Heizer Frederick Barrett (Melvin Schulze-Menningmann) den Weg, um seiner Liebsten in London Nachrichten zu übermitteln. Aber Harold Sydney Bride sollte noch wichtigeres zu tun bekommen. Gibt es Schiffe in der Nähe? Zunächst stellt sich die Frage nicht. Doch schon bald, der erste Offizier William McMaster Murdoch hat das Kommando, taucht unmittelbar vor der Titanic ein riesiger Eisberg auf. Dramatische Musik, die Streicher geben alles, ein Schiffshorn nutzt nichts, denn ein Eisberg lässt sich nicht warnen, beidrehen Backbord, schon schlitzt der scharfkantige Eisklotz den Schiffsboden auf. Schotten dicht. Und während die Crew Schwimmwesten verteilt, geben sich Schiffseigner, Kapitän und Konstrukteur gegenseitig die Schuld und müssen erkennen, dass die Plätze auf den Rettungsbooten nicht ausreichen (Gott selbst könnte dies Schiff nicht versenken – welch ein Irrtum). Es folgen dramatische Szenen. Großartig wie die Schauspieler es schaffen, die Schiffsneigung zu imitieren, wie sie verzweifelt über das Deck rutschen und sich an die Reling klammern, wie sich immer mehr Menschen – den Gesetzen der Physik folgend – auf einem Haufen finden. Ingo Budwigs Arme und Hände fliegen, geben Zeichen für die Musiker und den sinkenden Chor. Der Chor sinkt – das bekommt mal eine ganz andere Bedeutung. Ruhe – und schon ist nur noch Totengesang.

Eine liebevolle Inszenierung mit engagierten Sänger*innen in tollen Kostümen, wunderbaren Tanzeinlagen und einem grandiosen Orchester. 20 Jahre nach Gründung des Freien Musical-Ensembles Münster und 10 Jahre nach Wiederaufnahme von Titanic scheinen die Mitwirkenden jung wie nie, hungrig, neugierig, leidenschaftlich und eben doch gepaart mit der Erfahrung von 162 Aufführungen.

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