Vorsicht zerbrechlich ! Im Herzen der Gewalt

Es braucht nicht viel an Kostümen, an Requisiten. an Bühnenaufbau. Links ein Plattenspieler und in einer Vase ein paar Lilien. Eine große silbrige Spielfläche ist an 4 Ketten von der Decke heruntergelassen. Unter Regie von Alice Buddeberg zeigt das Theater Bielefeld gestern im Kleinen Haus „Im Herzen der Gewalt“ nach dem Roman des Franzosen Édouard Louis.

Édouard in blauer Hose und dunkelkaramellfarbenem Pullover, gespielt von Lukas Graser, erzählt von jenem Abend in Paris, als er Weihnachten auf dem Rückweg nach Hause ist. Bepackt mit Büchern, Geschenke von Freunden, wird er von dem Kabylen Reda angesprochen. Schon ist das Publikum mit den Protagonisten am Place de la République. Es braucht keinen Eifelturm, als sich Reda (Doga Gürer) von links der Spielfläche nähert, ebenfalls blau-karamellfarben gekleidet. Immer offensiver wird sein Werben, ein gemeinsames Getränk, nicht lange, bitte, und schon sei er wieder weg. Und Édouard kämpft ein bisschen mit sich selbst, kann er einen wildfremden Mann einfach so mitnehmen? Doch er ist von dessen Ausstrahlung, seinem Geruch, seinem Habitus ganz gefangen. Die beiden landen schließlich bei Édouard und schon küssen sie sich leidenschaftlich, reißen sich die paar Sachen vom Leib. Von der Decke schweben flauschige Federn auf den Boden.Von rechts betritt Alexander Stürmer die Bühne, genauso angezogen wie die anderen beiden. Schon folgt die verständnislose Frage: „Und Sie haben den Herrn einfach so mit rein genommen?“ Die Polizei, Kriminalpolizei, das Gerichtsprotokoll. Dann wird es rasant, schließlich sind alle drei gleich gekleidet, jeder schlüpft in die Rolle von Èdouard und von Reda, von Polizisten, von Freuden, von der Schwester im kurzen, schwarzen Blümchenkleid.

Reda hat Èdouard bestohlen, in einem unbeobachteten Moment dessen Handy und später sollte sich herausstellen, dass er noch viel mehr geklaut hat. Doch darauf angesprochen leugnet Reda vehement, hilft sogar zu suchen. Schnell kippt die Situation. Wo eben noch Lust vorherrschte, ist es nun nackte Gewalt, würgen mit dem Schal und die Aufforderung „Dreh Dich um!“ Dass Èdouard überhaupt überlebt, scheint ein Wunder, er selbst beschreibt minutiös, zu welcher List er gegriffen habe, dass er nämlich den Moment der Schwäche zum Zeitpunkt von Redas Orgasmus genutzt und ihm den Ellbogen in den Leib gerammt habe. Doch jetzt beginnt das Martyrium erst recht. Denn Freunde haben ihn überredet (oder genötigt), den Vorfall anzuzeigen. Überhebliche Kriminalbeamte, die Èdouard in die Zange nehmen, eine Amtsarzt, der Rektaluntersuchungen vornimmt, Freunde, die ihm eine Mitschuld geben, selbst seine Schwester, die ihm nicht glaubt. Èdouard merkt auch, dass er immer rassistischer wird. Sobald sich ein arabischer Mann nähert, wird er nervös, es reichen schon südeuropäische Männer in der Metro. Ein Ausflug nach Istanbul ist dann auch eine wirkliche schlechte Idee.

Eine intensive schauspielerische Leistung der drei Protagonisten. Die Inszenierung saugt ihren Nektar daraus, dass durch den ständigen Rollenwechsel unglaubliche Lebendigkeit erzeugt wird. Trotz des schweren Stoffes, gelingt es, Momente der Komik einzubauen, als etwa die Spielfläche nach vorne geneigt und ein Auto imitiert wird. Weil zu dem Zeitpunkt das Hinterteil von Alexander Stürmer entblößt ist, gelingt es ihm nicht wie die anderen beiden einfach herunterzurutschen. Respekt für diese Darbietung.

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