Zeit für Pianeo, Münsters Festival für Neoklassik

Bis zehn vor eins haben die Grandbrothers letzte Nacht alles aus ihrem Flügel herausgeholt, und das ist durchaus eine Menge. Das Instrument sieht aus wie ein Komapatient, dessen Vitalfunktionen künstlich aufrecht gehalten werden. So viele Kabel hängen heraus und sind mit Computern verbunden. Lukas Vogel schiebt Regler hin und her, hoch und runter und verzerrt, verstärkt, verändert die Töne, die Erol Sarp am Tasteninstrument erzeugt. Gestern Abend war Start von Pianeo in der Petrikirche. Münsters 10-tägiges Festival für Neoklassik liegt – „natürlich“ möchte man fast sagen – in der Hauptverantwortung von Wilko Franz. Überflüssig zu betonen, dass viele andere fleißige Helfer dabei sind.

Gestern begann das Festival dann gleich mit einem Doppelkonzert. Bevor die Grandbrothers sich die Ehre gaben, war Zeit und Raum für Aron Ottignon, der in Begleitung von Samuel Dubois an den Steel-Drums und Rodi Kirk an der Elektronik für eine sehr entspannte Atmosphäre sorgte. Musikalisch lässt sich sein Spiel gar nicht so genau verorten, und das will er wohl auch nicht, Die ersten drei oder vier Nummern sieht man nur einen riesigen Hut, der hinter dem Flügel verschwindet. Die Zeit gehört eindeutig dem Steel-Drummer, der die Menschen direkt mal auf Betriebstemperatur bringt. Doch irgendwann begrüßt Ottignon sein Publikum, und nennt die Namen nicht nur der Musiker sondern auch der ersten Stücke, „Jungle“ etwa oder „Ocean“. Dubois spricht ein paar Brocken ins Mikro, die aufgenommen werden und verändert, tiefer wieder abgespielt oder höher, langsamer oder schneller bis ein durchgehender Ton entsteht, der wiederum mit Klavierspiel gemischt wird. Das alles in fantastischer Beleuchtung. Im Bühnenrücken stehen vier Säulen aus Metallgestänge, auf die „Suchscheinwerfer“ montiert sind. Die Lichter huschen über die Musiker, treffen aber auch mal das Publikum, das sich vielleicht ertappt oder gefunden fühlt. Dazu gibt es riesige, farbige Strahler von unten. Da sind die Zuschauer ganz aus dem Häuschen, das bietet so viel Überraschung und formt sich zu einem harmonischen Ganzen, zu dem man tanzen möchte. Zuckende Füße, trommelnde Hände, wiegende Köpfe.

Dass die Umbaumaßnahmen zur zweiten Konzerthälfte tatsächlich – wie Wilko Franz zu Beginn ankündigte – in gut 20 Minuten abgeschlossen waren, hätte man kaum vermuten können. Gefühlt 20 Kilometer Kabel mussten aufgewickelt, verräumt, verstaut und ja auch wieder entrollt, angeschlossen, umgesteckt werden. Dazu die Arbeitsfläche von Lukas Vogel, ein riesiger Tisch mit allerlei Equipment, Computer, Steckern und – natürlich Kabeln. Das Besondere der Verbindung zwischen Flügel und Computern erklärt später dann Vogel, der von Erol Sarp ein paar mal ermuntert wird, das „Geheimnis“ zu lüften. Am Flügel sind überall Hämmerchen angebracht, die auf die Saiten schlagen und diese Töne werden dann elektronisch verändert. Lukas Vogel steht hinter seinem Tisch, alles immer in Bewegung, personifizierter Tanz. Plötzlich wird von hinten eine dünne, recht dichte Wolkendecke hereingepresst. Sie wird so beleuchtet, dass man miterleben kann, wie sie leicht sinkt, sodass Vogels Haupt quasi über den Wolken ist. Ganz große Kunst. Die Musik selbst hat sich mir persönlich beinahe eingegraben. Denn 2016 waren die Grandbrothers bereits im Münster, damals im Pumpenhaus und ich war vom ersten Moment gefangen von den Melodien und dem elektronischen Klang. „Ezra war Right“,  das so langsam beginnt, gefühlvoll, dann an Dynamik gewinnt bis der ganze Körper infiziert ist. Man möchte, dass es nie aufhört. Oder „Bloodflow“ vom letzten Album, auch in dem Song möchte man versinken. Ein tolles Doppelkonzert, das Lust auf mehr macht.

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